"Muster brechen" - aber welche?

 Auf diese Frage fallen mir mehrere Antworten ein, die alle relevant sind für das Managen komplexer Projekte. Um den Rahmen dieses Beitrages nicht zu sprengen, fokussiere ich auf eines meiner „Lieblingsmuster“: Das Zusammenspiel von Verbundenheit und Potenzial, womit ein Auftrag zum Musterbrechen für das Management einhergeht.

Aber der Reihe nach. Dass jedes Projekt unterschiedliche Phasen durchläuft, ist nicht neu. Dass in den einzelnen Phasen verschiedene Aspekte im Vordergrund stehen, ebenfalls nicht. Was in der folgenden Betrachtung anders sein wird, ist die systemische Sicht auf den evolutionären Projektverlauf, orientiert am adaptiven Zyklus (siehe Abbildung 1). Der Begriff des adaptiven Zyklus wurde von dem kanadischen Ökologen C.S. Holling geprägt, der darüber den Wald als Ökosystem erklärt hat. Seine Betrachtungen und Ergebnisse lassen sich auf komplexe Systeme außerhalb der Ökologie übertragen, um vor allem die gleichzeitige Existenz vermeintlicher Gegensätze wie Effizienz / Innovation, Veränderungsbereitschaft / Kontinuität oder auch Spezialisierung / Vielseitigkeit zu erläutern. Für unsere Überlegungen hier fokussieren wir auf die Kontexte der verschiedenen Projektphasen und deren Bedeutung für das Entscheiden und Führen als Projektmanager.

Die wesentlichen Einflussgrößen, über die eine kontinuierliche Anpassung an die sich ändernden Gegebenheiten nur möglich ist, sind Verbundenheit und Potenzial. Verbundenheit stellt die enge Verbindung der Elemente im System dar. Am Beispiel des Projektteams betrachtet ist leicht nachvollziehbar, dass sich mit einer engen Verbundenheit der Teammitglieder eine höhere Kontinuität erreichen lässt. Das Potenzial ist die Summe aller Ressourcen im System. In den ‚unteren’ Phasen wird es tatsächlich genutzt, um Innovationen und Wachstum zu generieren. In den beiden ‚oberen’ Phasen hingegen wird es eher vorgehalten und gespeichert. Ein gutes Zusammenspiel dieser Einflussgrößen versetzt ein Projekt in die Lage über seinen evolutionären Verlauf hin anpassungsfähig und erfolgreich zu sein. Schauen wir nun konkret auf die Phasen und ihre Besonderheiten.

Die Wachstumsphase ist die Phase eines typischen Projektstarts. Die Verbundenheit ist niedrig, das Potenzial steigt stetig an. Die Projektbeteiligten kennen sich noch nicht gut, Rollen und Aufgaben werden ausgehandelt, die impliziten Regeln für die Zusammenarbeit finden sich. Es werden Arbeitspakete geschnitten, Planungen gemacht, eine Risikoanalyse erstellt, die Problemstellungen des Projektes sind noch „open ended“. Der Entscheidungsmechanismus ist Wahrnehmen-Analysieren-Reagieren. Als Projektmanager lassen Sie sich von den Experten mögliche Lösungen / Abschätzungen / Ideen erarbeiten und wählen die passendste aus. Der Ansatz Good-Practice ist sinnvoll und möglich, denn Sie bringen ausreichend Erfahrungen und erfolgreiche Lösungen bereits mit. Üblicherweise dominieren die Experten diese Projektphase. Und darin liegt auch eine latente Gefahr. Respekt muss hier erworben werden und das passiert üblicherweise über die Fachkompetenz und deren Darstellung gegenüber den Anderen. Oligarchie ist der entsprechende Führungsstil beziehungsweise die Herrschaftsform. Einige wenige Experten steuern in dieser zentralen Phase das Projekt. Als Projektmanager entsprechende Autorität zu erlangen ist eine Herausforderung zwischen all den Experten. Die zentrale steuernde Aufgabe für den Projektmanager ist hier, auf die unterschiedlichen Zielsetzungen zu achten und dafür zu sorgen, dass die Experten auch Sichtweisen der Generalisten und neuen Kollegen akzeptieren. Sonst hemmen sie die Ideenkraft des Projektteams.

Sind die Regeln der Zusammenarbeit klar formuliert und sowohl Probleme als auch mögliche Lösungen bekannt, können alle Ressourcen gut genutzt werden und das Potenzial steht voll zur Verfügung. Die hohe Produktivität der Erhaltungsphase kann sich entfalten. Der Kontext ist Einfach. Der vorgegebene PM-Prozess ist für das Projekt adaptiert. Standards sind implementiert. Neue Kollegen können schnell eingewiesen werden, da Abläufe und Vorgehen klar sind. Ein Projekt in dieser Phase zeigt üblicherweise feudale Strukturen, der Projektmanager fährt eine klare Linie der Autorität. Wichtigster Mechanismus zur Entscheidungsfindung ist das Kategorisieren. Der Anteil bürokratischer Vorgänge und Handlungen ist sehr hoch. Das System Projekt ist jetzt bestrebt möglichst stabil zu bleiben. Für die einzelnen Menschen im Projekt ist diese Phase oft sehr angenehm. Man kennt sich, weiß wie die Zusammenarbeit funktioniert, welche Abläufe wie zu handhaben sind und so weiter. Die Gefahr liegt darin, dass die Standards höher bewertet werden als mögliche Innovationen. Das Projekt wehrt sich gegen Veränderungen. Hier sollte der Projektmanager einen „Störungsauftrag“ als Führungskraft wahrnehmen, denn das Projekt wird sonst unflexibel und erstarrt in seinen Bewertungen, Mustern und Mechanismen. Die Kunst liegt darin, die richtige Balance zwischen stabiler Produktivität und veränderlicher Innovation zu finden. Vergräbt ein Projektteam sich zu sehr in der vermeintlichen Sicherheit des Einfachen, so treffen es unvorhergesehene Ereignisse oder Turbulenzen umso heftiger. Der abrupte Übergang ins Chaotische kann dann eine echte Krise auslösen. Darauf zu warten, ob der Fachbereich restrukturiert wird oder nicht, ist ein schlechter Ratgeber. Besser vorbereitet ist das Projekt, wenn es entsprechende Szenarien formuliert und eine Auswahl an Lösungsalternativen zur Verfügung hat.

Wir reden über große komplexe Projekte. Also über Projekte, in denen immer „irgendetwas“ passiert. Dieses ‚Irgendetwas‘ stellt den Wechselpunkt in die Zerstörungsphase und damit ins Chaos dar. Es entsteht ein Konflikt zwischen den Datenbankspezialisten, das Projekt hat für eine gewisse Zeit keinen Auftraggeber, das Budget wird gekürzt, die Fachseite verweigert die Abnahme und so weiter. Die Liste möglicher Katastrophen können Sie sicher um einige Punkte erweitern. Je nach Schweregrad wird ein Krisenmanagement aufgesetzt, das schnelle Maßnahmen trifft und oft massive Veränderungen am System vornimmt. Die Verbundenheit nimmt ab, viele Menschen werden unsicher und achten jetzt verstärkt auf ihre eigene Position. Auf der anderen Seite werden die Potenziale nun freigesetzt. Oft werden ganz neue Ideen und Ansätze formuliert und auch gehört. Ob nun in der Rolle als Projektmanager oder Krisenmanager, es geht darum zu agieren, wahrzunehmen und zu reagieren. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine einzig richtige Lösung. Das erste Ziel ist Systemstabilität. Maßnahmen aus der geordneten Welt, wie Analyse oder Kategorisieren, laufen ins Leere. Als Reaktion auf die Restrukturierung und den fehlenden Auftraggeber könnte die Aktion sein, das Projekt einzufrieren, vollständig weiter zu arbeiten, mit der Hälfte des Teams weiter zu machen oder, oder, oder. Die Führung in der Zerstörungsphase ist eine diktatorische oder auch charismatische. Diese Phase sollte möglichst kurz sein, aber für ihre Dauer braucht es eine klare und direktive Führung. Hier liegt für viele Projektmanager eine große Herausforderung. Können sie mit diesem Führungsstil doch nicht erwarten gemocht zu werden. Aus diesem Grund scheuen sich viele Menschen auf diesen Stil umzuschalten. Auch hier sollte selbstreflektiert ein eigener Weg gefunden werden, denn in komplexen Projekten ist diese Flexibilität unverzichtbar.

Mit der Erneuerung beginnt die Phase des Experimentierens und des Neubeginns. Das Projekt wird sich verändern hinsichtlich des Teams, der Anforderungen etc. oder es wird sich möglicherweise auflösen, beziehungsweise in einem anderen Programm aufgehen. Es ist die Domäne der Komplexität, in der sich das Projekt nun befindet. Auch hier gibt es die einzig richtige Lösung nicht. Die Entscheidungen des Krisenmanagements münden üblicherweise in das Probieren verschiedener Szenarien. Vielleicht werden mehrere Datenmigrationsansätze gleichzeitig getestet, die Rollen neu im Team verteilt oder auch ganz neue Prozesse aufgesetzt. Das Projekt bewegt sich immer noch in der ungeordneten Welt, es gilt also Probieren-Wahrnehmen-Reagieren als Entscheidungsmechanismus. Der unterstützende Führungsstil des Projektmanager ist visionär oder auch rein praktisch orientiert. Der wichtigste Punkt aber ist, dass der Projektmanager nicht als „erster Fachmann unter Gleichen“ die Lösungen vordenkt oder vorgibt. Wir sind wieder am Punkt der kognitiv nicht zu überblickenden Komplexität. Führung bedeutet vielmehr den Raum für das Probieren zu schaffen und zu bewerten, ob die Ergebnisse zum Ziel führen. Dazu ist unabdingbar, dass Fehler erlaubt sind. Gerade die Erneuerungsphase bietet Gelegenheit für neue Ideen, neue Beteiligte und große Veränderung. Jetzt ist Entwicklung möglich, die in der anschließenden Phase des Wachstums umgesetzt werden kann. Ich persönlich kenne kein großes Projekt ohne chaotische und komplexe Situationen beziehungsweise Kontexte. Und wir brauchen sie auch dringend. Wollen wir Veränderungen, Innovationen, Produktentwicklung oder Wachstum, dann hat das immer mit dem Zusammenspiel von Zerstörung und Erneuerung zu tun. Statt Parolen wie „Raus aus dem Chaos“ oder „Weg mit der Komplexität“ plädiere ich für „Komplexität und Chaos: Herzlich willkommen und nutzen wir die Chancen“.

In diesem Sinne...bleiben Sie erfolgreich!

 


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