Waren Sie schon mal in Hanoi? Ja? Dann dürften Sie den ewigen Fluss der Fahrzeuge auf den Straßen Hanois ja kennen. Das Foto ist, in meinem gerade beendeten Urlaub, in genau jener Stadt entstanden. Und das ist eine der eher kleineren Straßen. Es gibt dort keine Lücke im Verkehr, keinen Moment ohne ein Fahrzeug, ohne Auto, ohne Moped schon gar nicht. Will man die Stadt erkunden, muss man zwangsläufig diese Straßen überqueren. Die Frage ist nur: Wie?
"Such Dir doch ´ne Ampel." Im Grundsatz eine Superidee und für unseren Kulturkreis auch bestens geeignet. In Vietnam ist das mit den Regeln (auch im Straßenverkehr) aber so eine Sache. Eine Ampel gibt dort lediglich mögliche Optionen an, sie macht quasi Vorschläge. Nicht mehr und nicht weniger. Im Klartext heißt das, niemand schert sich um die Anzeige einer Ampel. Wir haben es ja probiert und standen genauso erstaunt über den nicht enden wollenden Strom von Fahrzeugen an einer für uns Fußgänger grünen Ampel. Also, wenn nicht Ampel, was dann?
"Mach´s doch so wie hier, Lücke suchen und schnell über die Straße huschen." Im Grundsatz eine Superidee und für unseren Kulturkreis auch bestens geeignet. In Vietnam eher nicht. Erstens gibt es keine Lücke (siehe Foto) und zweitens würde das den Fluss stören und zu folgenreichen Irritationen bei allen Beteiligten führen. Ich habe es probiert - das tut nicht. Wenn nicht huschen, was dann?
"Das Muster erkennen und einfach mitmachen." Genau das ist die Lösung. Bedeutet konkret: man gehe langsam und bestimmt einfach über die Straße. Glauben Sie nicht? Ist aber so. Als Fußgänger wird man somit einfach Teil des Systems. Die langsamen Bewegungen sorgen dafür, dass man für die Anderen kalkulierbar wird und sämtliche Fahrzeuge um einen herumfahren können. Das fühlt sich mittelschwer beängstigend an (bei den ersten 3 -4 Straßen) und ist das Gegenteil des antrainierten Handlungsimpulses, funktioniert aber tatsächlich.
Das was die Verkehrsteilnehmenden in einer Stadt wie Hanoi tun ist "gelebtes Meistern von Komplexität". Würde der Verkehr nicht in diesem ständigen Fluss (unter Missachtung sämtlicher Regeln wie Rechtsfahrgebot, auf der Spur bleiben, an der Ampel bei Rot halten,…) sein, so entstünde dort totales Chaos. Jede Menge Staus wären vorprogrammiert und vielleicht wäre die Zahl der Verkehrsunfälle noch höher (niedrig ist sie eh nicht). Hanoi hat kaum die Möglichkeit ihre Infrastruktur mal eben so aufzurüsten, dass sie es mit dem Straßenverkehr eher kompliziert (so wie wir) als komplex halten könnte. Zu wenig Straßen, alle zu eng, zu viele Fahrzeuge, kein Geld.
Ein ganz entscheidender Punkt an dieser Stelle ist jedoch das Verhalten der Menschen in diesem Verkehrsgewühl. Es wird viel und reichlich gehupt - kurz, doppelt, lang, dreifach. In Deutschland wird gehupt, um einen anderen zurechtzuweisen und dem eigenen Ärger Luft zu machen. In Vietnam ist Hupen ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem. Es dient dazu über das eigene Verhalten zu informieren. Niemand fühlt sich gegängelt (Ausnahmen bestätigen die Regel), wenn er angehupt wird. Die Basis, damit diese Art der Kommunikation funktioniert, ist Kooperation. Das ist das wesentlichste Merkmal im Verhalten der Menschen dort. Fortbewegen im Straßenverkehr geschieht dort ‚mit den anderen‘ nicht ‚gegen die anderen‘. Ein großer Unterschied zu unserer Verkehrskultur und die essentielle Grundlage für das Meistern komplexer Situationen in Teams. Nur mit Kooperation lässt sich der Fluss auf den zu kleinen Straßen mit den zu vielen Teilnehmern erzeugen.
Soll heißen: In den Straßen von Hanoi kann man jede Menge über die Zusammenarbeit mit Menschen in komplexen Kontexten lernen und reflektieren:
· Die eigene Einstellung, mit der ich in die Situation gehe (Kooperation vs. Konkurrenz).
· Ich brauche valide Experimente, um mein "richtiges" Muster zu finden (Ampel, Lücke, Mitmachen).
· Manchmal ist das Brechen von Regeln die Möglichkeit, das System funktionieren zu lassen.
· Komplexes lässt sich nicht immer ins Komplizierte überführen, um über Analysen arbeiten zu können.
· Manchmal braucht man neue Verhaltensmuster, um die Komplexität zu meistern.
Die Grundeinstellung der Menschen auf Hanoi's Straßen wünsche ich mir als Basis für unsere Projekte - Kooperation.
In diesem Sinne … bleiben Sie erfolgreich!
