Diagnosen, Stereotype und Vorurteile

Neulich im Projekt…

In dieser Woche habe ich ein neues Projekt bei einem neuen Kunden begonnen. Frisch gestriegelt, hoch motiviert und unvoreingenommen bin ich zum ersten Arbeitstag in den Räumlichkeiten des Kunden erschienen. Erstmal wurde ich rumgeführt und vorgestellt. Dabei führte uns der Weg auch in die Kaffeeküche (oft der zentrale Informationshandelsplatz eines Projektes), in der ein Grüppchen "uniformierter" Grau-Anzug-Träger kollektiv die Augenbrauen hob. Ich stellte mich also erstmal vor: "Hallo, mein Name ist Bobby. Ich werde das Projektmanagement in den nächsten….". Meine Vorstellungs-Adressaten tauschten wissende Blick untereinander und lächelten mir süffisant zu. Ahhhh, jetzt war's mir klar. Ich war einer Gruppe Kollegen begegnet, hätte ich am Outfit auch gleich erkennen können - Berater.

Jetzt geschah etwas, das ich schon oft erlebt habe: sie wiesen mich "freundlicherweise" ins Geschehen ein. Soll heißen, ich bekam im Schnelldurchlauf ihre Diagnosen zum Kunden, zu den beteiligten Personen, den Anforderungen, den Prozessen und allen sonst noch relevanten Aspekten benannt. Mit den Diagnosen ("Der Projektleiter kann eben nicht…", "Der Auftraggeber macht seinen Job…", "Herr X fehlt ganz klar…" und so weiter) kamen auch gleich die notwendigen Medikationen à la "Da kann man halt nur jenes und welches tun. Tja, so ist es eben hier."

Leicht verwirrt und informationsüberflutet verließ ich die Küche und setzte meinen Rundgang fort. Aber irgendwas war anders als vorher. Genau, ich selbst war jetzt nicht mehr unvoreingenommen. Stimmte das "Bild" meiner Kollegen? Hatten Sie hier alle und alles längst durchschaut? Zur Verwirrung mischte sich Ärger. Ich fühlte mich darum betrogen, meine Erfahrungen in diesem neuen Umfeld selber machen zu können. Das, was mir die Kollegen präsentiert hatten war eine Reihe von Vorurteilen, Stereotypen, Zuschreibungen, Interpretationen und Bewertungen. Verkauft allerdings als Wirklichkeit!

Wir alle bilden uns Meinungen, kategorisieren (Dinge, Menschen, Situationen,…), bewerten und interpretieren. Das macht die Welt für uns einfacher, wir "sehen klar". Was wir dabei gerne übersehen ist, dass es eine subjektive Konstruktion der Wirklichkeit ist und nicht etwa die einzig existente Wahrheit. Einmal kategorisiert und mit einem Stempel versehen haben es Menschen häufig schwer aus dieser Schublade bei uns wieder herauszukommen. Und dann startet ein Kreislauf von "wir bekommen, was wir erwarten". Der Eigenanteil daran, dass sich der Auftraggeber in der anstehenden Verhandlung genau so verhält, wie wir es über ihn denken, steigt. Leider passiert dies alles unbewusst, und wir hören uns nach der (wie auch immer gelaufenen Verhandlung) sagen: "Hab ich doch gleich gewusst, dass der….".

Ich beschließe noch während meines Rundgangs: das Spiel mache ich nicht mit! Von Beginn an werde ich meine Wahrnehmung im Auge (und vor allem im Ohr) behalten und darauf achten wann meine Stimme im Hinterkopf sagen will: "Siehst'e, war doch klar dass…..". Dann werde ich "anhalten" und diese Bewertung infragestellen. Das wird ein schönes Übungsfeld und mir reichlich Training bescheren. Oh, by the way, was denke ich noch gleich, wenn ich "uniformierte" Grau-Anzug-Träger sehe…?

In diesem Sinne … bleiben Sie erfolgreich!


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