"Du sollst nicht lügen" - oder so...

„Du sollst nicht lügen“ predigte mir meine Oma schon von klein auf. „Sag die Wahrheit, auch wenn es schwerfällt oder unangenehm ist“ forderte sie. Meine Oma war und ist sicher nicht die Einzige, die dieses Gebot hochhält. Das unterschreiben Sie doch sicher auch, oder? Eingeschränkt schon, mögen Sie gerade denken. So ganz kleine Notlügen sind schon mal erlaubt. Aber im Großen und Ganzen soll man bei der Wahrheit bleiben. Wenn dem so ist, warum wird dann in unseren Organisationen gelogen, dass sich die Balken biegen? Egal ob es der Vertriebs-Forecast, der Projektbericht, die Reisekostenabrechnung oder die Abgaswerte sind, es wird „alternativ formuliert“ wie nur was. Es wird abgelenkt, weggelassen, verschwiegen, verwässert, erfunden, verfälscht übertrieben und untertrieben. Würde uns Menschen mit jeder Lüge die Nase wachsen wie Pinocchio, so käme niemand mehr aus dem Besprechungsraum und man könnte vor lauter Holznasenaneinandergeklacker sein eigenes Lügenwort nicht mehr verstehen.

Auch außerhalb der Arbeitswelt geht das mit der Unwahrheit fröhlich weiter. Kollegen prahlen mit dem Füllstand ihrer Auftragskörbchen, dem unglaublichen wirtschaftlichen Erfolg. In den Medien nennen wir es Fake-News, damit hat die Lüge einen nicht ganz so drastischen Anstrich. Fake klingt irgendwie niedlicher. Und auch unsere Politiker nehmen es mitunter nicht so genau, vor allem wenn es um ihre Doktorarbeiten geht. Aber wehe, man spricht die Menschen darauf an.

Neulich kam ich in den Genuss der ausführlichen Schilderung, wie ein Kreis von Managern mit dem Berichtswesen in der Organisation so umgeht. Am Ende fragte ich (gemäß aktivem Zuhören) zusammenfassend: „Sie lügen also?“ Ein Sturm der Entrüstung brach los und alle Anwesenden bemühten sich redlich darum mir zu erklären, dass „Nein, so … ähm … kann man das nicht sagen … ähm … das ist eher … so … gewollt…“ Die Gretchenfrage aber ist doch wohl: Warum lügen die Menschen in Organisationen so viel?

Um einer Antwort näher zu kommen, muss das Lügen auf zwei Ebenen betrachtet werden – der individuellen und der Systemebene. Wir Menschen lügen, um unser Selbstwertgefühl zu erhalten und um Anerkennung zu bekommen. Wir lügen auch, wenn es uns den Umgang mit einer aktuellen Situation erleichtert. Es ist ein Selbstschutz, der uns hilft Konflikte und Ärger zu vermeiden. Lügen ist auf dieser Ebene, finde ich, sehr nachvollziehbar. Wird ein Vertriebler jede Woche zum Vertriebschef zitiert und muss dort Tiraden über sich ergehen lassen, weil sein Forecast zu niedrig ist, so wird er ihn möglicherweise beschönigen. Lügen ist also einfach eine Lösungsstrategie.

Lügen ist ein Symptom. Die Lösung liegt also, wie so oft, nicht auf der Symptomebene, sondern tiefer. Sie liegt im System. Überbürokratisierung, divergierende Ziele, Konfliktvermeidung sind nur einige Krankheitssymptome starrer Organisationen. Will man in ihnen konform agieren, kommt man an der Unwahrheit meist nicht lange vorbei. Die Konsequenz dahinter ist aber größer als nur eine falsche Zahl im Bericht oder eine 10-Euro höhere Abrechnung. Die schwerwiegendste Konsequenz ist der Verlust von Vertrauen in der gesamten Organisation. Es spielt keine Rolle, ob wir persönlich angelogen werden oder gemeinsam Berichte verfälschen. Sobald wir Unwahrheit erleben, egal auf welcher Ebene, sinkt unser Vertrauen. Logisch. Das aber genau brauchen wir für Kollaboration, multidisziplinäres Arbeiten und Kooperation. Und alle hehren Versuche Vertrauen aufzubauen, scheitern. Denn solange der Kreislauf der Unwahrheit besteht, kann Vertrauen nicht gedeihen. Also, frei nach meiner Oma: „Hör auf zu lügen und sag die Wahrheit!“ Schön wär’s.


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